Rede der Fraktionsvorsitzenden Adrianna Gorczyk im Rat der Stadt am 15.06.2023 zu TOP 2 „Lokales Handlungskonzept gegen Antisemitismus“ 15. Juni 202319. Juli 2023 Foto: Anna-Lisa Konrad Die Rede ist über den offiziellen Livestream der Stadt hier verfügbar und beginnt etwa bei 1:45:30.Es gilt das gesprochene Wort Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, liebe Kolleg*innen der demokratischen Fraktionen, liebe Gelsenkirchener*innen, unter dem Motto „Don’t stop believing“ fand Mitte Mai in Frankfurt der „Jewrovision 2023“, ein überregionaler Gesangs- und Tanzwettbewerb der jüdischen Jugendzentren Deutschlands, statt. Für ihr Vorstellungsvideo gewann die Jugendgruppe „Chesed“ aus der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen den Videopreis des Wettbewerbs, wozu ich gerne herzlich gratuliere. Warum beginne ich damit? Zunächst: Haben Sie gewusst, dass es einen „Jewrovision“ gibt? Falls nein – dann war es es wert, davon zu erzählen und Ihren Blick auf einen bisher unbekannten Aspekt jüdischen Lebens in Deutschlands zu lenken. Aber auch – und das führt in den Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ein – weil das Vorstellungsvideo der jüdischen Jugendgruppe einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht hat. Im gerappten Songtext lautet es, ich zitiere: „Leben als ein Jude ist doch alles fein, da wo alle beten, muss man sicher sein“ und „ ‚Scheiß Juden‘-Rufe vor der Synagoge, rechte Hetze und Parolen so wie unter Droge“ und „Deutschland niemals meine Heimat, weil ich anders bin“ Das ist die Erfahrung von Jüd*innen in Gelsenkirchen. Das ist die Perspektive der Betroffenen. Und diese stellt auch das „Lokale Handlungskonzept gegen Antisemitismus“ richtiger Weise an seinen Anfang. Es ist die regelmäßige Konfrontation mit Antisemitismus im Alltag von Gelsenkirchener*innen jüdischen Glaubens, die Ausschlag zu diesem Konzept gibt, und nicht diese oder jene spezielle Erscheinungsform von Antisemitismus. Denn Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und muss in all seinen Ausprägungen und Dimensionen betrachtet werden. Nur auf dieser Basis kann eine umfassende kommunale Strategie gegen Antisemitismus gelingen, die keine blinden Flecken hat und auf aktuelle Entwicklungen reagieren kann. Entscheidend ist es, die identitäts- oder sinnstiftende Funktion antisemitischer Erklärungsmuster in den Blick zu nehmen und bewusst zu machen, denn je mehr wir als Stadtgesellschaft über das Phänomen verstehen, umso mehr erkennen wir es als solches, wird es benannt und eingegriffen. Die zentrale Frage aus dem Konzept lautet deshalb: „Welche Rolle spielt der Antisemitismus für das Denken bzw. das Selbst- und Weltbild von Individuen, aber auch als Scharnierideologie verschiedener politischer Strömungen?“ Die Beschäftigung mit dieser Frage geht uns alle in Gelsenkirchen an: um Menschen in unserer Mitte zu schützen und ein friedliches und demokratisches Zusammenleben zu erhalten und zu fördern. Deshalb ist es auch so wichtig, die Breite der Stadtgesellschaft zu adressieren, was das Handlungskonzept mit dem Verweis auf unterschiedliche Zielgruppen auch tut: Angefangen in den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, über Behörden und Verwaltungen bis hin zur Politik und Stadtgesellschaft. An Schulen soll es z.B. neben der allgemeinen Sensibilisierung für Antisemitismus konkrete Unterrichtsangebote zum Thema „Nahostkonflikt“ und „israelbezogener Antisemitismus“ geben sowie „kritische Auseinandersetzung mit Verschwörungserzählungen und ihrem antisemitischen Gehalt“ stattfinden, außerdem wird die Bedeutung der Elternarbeit herausgestellt, da antisemitische Bilder und Vorstellungen häufig an Kinder weitervermittelt werden. Zudem sollen konkrete geschulte Ansprechpersonen bei antisemitischen Vorfällen in den Schulen etabliert werden. Im Bereich der Behörden und der Verwaltung sollen Angebote an Fortbildungen und Fachtagungen intensiviert werden und ein Facharbeitskreis Antisemitismus im Präventionsrat einberufen werden. Für die Zielgruppe von Politik und Stadtgesellschaft wird u.a. als essentiell formuliert, dass eine gemeinsame Definition von Antisemitismus verabschiedet wird, die alle Formen des Antisemitismus umfasst und als Arbeitsgrundlage für die von der Stadt geförderte Präventionsarbeit und die darin engagierten Akteure dient. Von einer solchen gemeinsamen Definition werden sich einige im Rat schon heute distanzieren und zusätzlich behaupten, dass „Israelkritik“ in Deutschland nicht geäußert werden könne, andere werden mit Verweis auf Geflüchtete und andere Zugezogene davon ablenken, dass 95% der 2020 begangenen antisemitischen Straftaten in Deutschland laut Verfassungsschutz dem rechten Lager zuzuordnen sind. Mit der Verabschiedung des „Lokalen Handlungskonzeptes gegen Antisemitismus“ wird Gelsenkirchen die zweite Kommune in NRW mit einem solchen Konzept sein und nimmt damit eine Vorreiterrolle ein. Das bedeutet nicht, dass Gelsenkirchen ein solches Handlungskonzept gegen Antisemitismus nötiger hätte als andere Kommunen. Was wir damit zum Ausdruck bringen, ist: wir wollen Ahnungslosigkeit und Ohnmachtsgefühl ablegen und wehren uns aktiv gegen diese Gefahr für das friedliche und demokratische Zusammenleben in unserer Stadt. Dazu gehört natürlich auch, dass wir verlässliche Strukturen für die Vernetzung, Unterstützung von Betroffenen, die Beratung und Bildung und natürlich auch für die Intervention vorhalten, fördern und vor allem transparent machen. Damit alle, die sich im Kampf gegen Antisemitismus engagieren, wissen, wohin sie sich wenden können, um Verbündete und Hilfe zu finden. Das alles hat sich das vorliegende Konzept zur Aufgabe gemacht und berücksichtigt zudem, dass es sich dabei um einen Prozess handelt, der offen für neue Akteure und Impulse bleiben muss. Als grüne Fraktion stellen wir uns an die Seite der Jüd*innen, dien in Gelsenkirchen leben und gegen jeden Antisemitismus. Wir stimmen der vorgelegten Fassung des Konzeptes ohne weitere Änderungen daher gerne zu und bedanken uns bei allen Expert*innen und Beteiligten aus der Verwaltung, der Stadtgesellschaft sowie weiteren Partner*innen, die dieses Konzept entwickelt haben.