Welche EU-Politik brauchen wir für Roma in Gelsenkirchen?

(Wolfram Schneider) Nach unserer „Großveranstaltung“ in Schalke unter der Überschrift „Wege zu guter Nachbarschaft mit Roma“ im November 2018 (KLICK) haben wir zum beginnenden EU-Wahlkampf den Blick auf Europa gerichtet.

Dazu hatten wir am 12. April Romeo Franz aus Rheinland-Pfalz in das Grüne Zentrum eingeladen. Seine Familie gehört zu den Überlebenden des Holocausts, viele Verwandte wurden ermordet und er hat die nach 1945 fortbestehende Ausgrenzung von Sinti und Roma in der deutschen Gesellschaft erlebt. Romeo ist seit 2010 bei den Grünen aktiv und seit Juli 2018 der erste deutsche Sinto im Europäischen Parlament. Daneben unterstützt er in verschiedenen Funktionen Menschen mit Romno-Hintergrund und tritt als Musiker auf.

Schwerpunkte seines Vortrags waren die Bewertung der Roma-Dekade der EU sowie welche guten Aktionen und Projekte es gibt. Das gab genügend Stoff für eine lebendige Diskussion.

Worüber reden wir? In Europa leben rund 12 Millionen Menschen, die den verschiedenen Gruppen mit Romno-Hintergrund angehören. Das Gemeinsame ist die Sprache Romanes, mit deutlichen Unterschieden durch die Kultur und Sozialisation in den Heimatländern.

In Deutschland gibt es vier seit langer Zeit hier lebende „nationale Minderheiten“ mit besonderem Schutz von Kultur und Sprache: Dänen, Friesen, Sorben sowie deutsche Sinti und Roma. Sie leben seit Generation hier, vielfach unauffällig und in die deutsche Gesellschaft integriert. Die in den letzten Jahren durch die Freizügigkeit in der EU zugewanderten Roma haben nicht diesen Schutz. Die herabwürdigende Fremdbezeichnung „Zigeuner“ kommt übrigens aus dem Griechischen und steht für „Unberührbare“, die „nicht in der Gesellschaft Angepassten“.

Was ist das Problem? Die jahrhundertealte Diskriminierung besonders der osteuropäischen Roma belastet das Leben in ihren Heimatländern. Armut, fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung sowie ein Leben am Rande der Orte der Mehrheitsgesellschaft sind die bittere Realität. Die Segregation führte vor allem in Rumänien zu „Arbeitssklaven“ mit geringsten Löhnen, deutlich unter nationalem Standard. So erscheint für Viele ein Leben in Westeuropa immer noch besser als „zuhause“, auch wenn es wieder Armut am Rand der Gesellschaft bedeutet.

Der Kampf um die gleichberechtigte Teilhabe der Roma in allen Lebensbereichen war und ist der EU ein wichtiges Anliegen. Deshalb rief sie 2005 zur „Roma-Dekade“ auf, die von 12 Staaten unterstützt wurde. Deutschland hatte an diesem Programm nicht teilgenommen, weil „Roma ja in Deutschland längst integriert seien“.

Es stand zwar viel Geld zur Verfügung, aber in den südosteuropäischen Ländern, wo es besonders nötig gewesen wäre, sind fast keine Verbesserungen für die Betroffenen erreicht worden. Das lag nach Romeos Analyse daran, dass die Konzepte paternalistisch und ohne Mitwirkung der Betroffenen entwickelt wurden, aber auch viel Geld durch Korruption versickerte.

Die im Programm geforderten „Strategiepläne für die Integration von Roma“ berücksichtigten nicht die Situation der seit Jahrhunderten in den Ländern lebenden Menschen. Es geht um deren gleichberechtigte Teilhabe, aber „Integration“ verlangt oft die Aufgabe der eigenen Identität. Die aktuellen Planungen für ein neues EU-Programm werden vermutlich in einem ersten Schritt nicht mehr Integration, sondern die Bekämpfung von Antiziganismus zum Schwerpunkt haben. Denn:

„Wir haben kein Roma-, sondern ein Rassismusproblem!“, so Romeos Fazit.

Woran können wir uns orientieren? Ein großer positiver Schritt war 2013 der Abschluss eines Staatsvertrages zwischen dem Land Baden-Württemberg und dem Landesverband der Sinti und Roma (mit einem Projektbudget von 700.000 Euro). Mit diesem wurde nicht nur die Wertschätzung der Minderheit ausgedrückt, sondern auch eine Kommunikation auf Augenhöhe begründet. Ein paritätisch besetzter Rat beschäftigt sich mit Fragen, Problemen, Projekten, so z.B. der Darstellung von Sinti und Roma in Schulbüchern oder der Entwicklung besserer Bildungszugänge. Bayern und Hessen haben inzwischen vergleichbare Verträge abgeschlossen. Die vorher Marginalisierten wurden so von Bittstellern zu Partnern.

Ein ähnlicher Staatsvertrag wäre auch für NRW ein guter Schritt. Der Weg zum Vertragsschluss kann schon Teil einer positiven Entwicklung sein. Hierfür sind Unterstützung und politische Mehrheiten nötig.

In der Diskussion wurde nach Abschiebungen nichtdeutscher Roma nach abgelehnten Asylverfahren aus Baden-Württemberg in Nicht-EU-Staaten des Balkans gefragt. Das hat aber mit dem Staatsvertrag nichts zu tun, sondern liegt am Asylrecht. Hier müsste „Antiziganismus“ als Fluchtgrund anerkannt werden!

In Deutschland ist nach wie vor eine starke gesellschaftliche Ablehnung der Roma zu verzeichnen. Das liegt oft an fehlenden Ansprechpartnern und Informationen. Die bestehenden Ressentiments sind nur durch Aufklärung und durch Dialog abzubauen. Hierzu braucht es aber auch auf deutscher Seite die Bereitschaft, vorhandene Vorurteile zu hinterfragen. Es kommt auf das Individuum und nicht auf die Gruppenzugehörigkeit an. „Wir haben kein Roma-, sondern ein soziales Problem.“ Doch mit der Definition „Roma“ macht man den Menschen Angst. Diese Haltung muss geächtet werden (ähnlich wie das bei Juden weitgehend gelungen ist – trotz aktuell wieder zunehmendem Antisemitismus).

Roma-Projekte können erfolgversprechend nur mit deren gleichberechtigter Beteiligung entwickelt werden. Angesichts des demografischen Wandels mit deutlicher Überalterung unserer Gesellschaft braucht Deutschland die Zuwanderung junger Menschen. Die Chancen müssen in den Blick genommen werden.

Romeos Empfehlungen an die Stadt Gelsenkirchen:

  • Sucht euch Hilfe, um die vorhandenen Konflikte besser zu lösen und die Sichtweisen aufeinander zu verändern. Der Antiziganismus ist als Ursache zu bearbeiten.
  • Betroffene sind einzubeziehen. Dafür ist eine Moderation notwendig, um Vertrauen bei der Minderheit zu schaffen.

Weiterführende Infos:

https://de.wikipedia.org/wiki/Roma-Politik_der_Europ%C3%A4ischen_Union

https://www.humanrights.ch/de/internationale-menschenrechte/nachrichten/europarat/dekade-inklusion-roma (darin auch der lesenswerte Link zum KOFF-Newsletter Nr. 96)

https://www.politische-bildung.nrw.de/publikationen/titelverzeichnis/print/sinti-und-roma/?no_cache=1&cHash=e7234dd51d0f5ea0b2fe94e14a7ce3ce