Gelbwesten in Frankreich – was bedeutet das für Europa, was für uns?

Diskussionsabend bei Bündnis 90/Die Grünen Gelsenkirchen am Mittwoch, 16. Januar 2019

Aktuelle Lage

Nach acht Wochen teils gewaltsamer Proteste ist die Bewegung zwar etwas kleiner, aber doch als Oppositionsbewegung in Frankreich massiver geworden. Ausgangspunkt war die Steuererhöhung für Kraftstoffe, doch entwickelte sie sich zunehmend zu einer Protestbewegung gegen soziale Ungerechtigkeiten und die Regierung, insbesondere stehen Ungerechtigkeiten im Steuersystem im Fokus, aber auch Forderungen nach „echter Selbstbestimmung“ – „durch das Volk für das Volk“, bis hin zur Absetzung gewählter Volksvertreter*innen und des Staatschefs. – Die Zugeständnisse Macrons vom Dezember entpuppten sich als wenig wirksam – die staatliche Repression verschärft sich. Noch vor Weihnachten wurden mehr als 4.500 Personen bei Aktionen der Gilet jaunes festgenommen. Aktuell gehen an den Wochenenden in Frankreich wieder Zehntausende auf die Straßen. Auch Tote, Zerstörung und Plünderungen hat es gegeben. Nach der Weihnachtspause beginnen die Gelbwesten in Frankreich sich zu strukturieren. Auch auf Belgien hat sich die Bewegung ausgeweitet, die gern mit Straßenblockaden arbeitet.
In Frankreich soll jetzt auf Initiative von Präsident Macron eine organisierte „nationale Debatte“ stattfinden. In einem 5-seitigen Brief mit 34 zum Teil sehr konkreten Fragen zu vier Themenbereichen will sich Macron mit seiner Regierung in einer zweimonatigen „Großen Debatte“ der Diskussion stellen. Es geht natürlich um Steuern (wobei gleichzeitig Finanzierungsvorschläge gemacht werden sollen), um Demokratie, um Immigration und um das Selbstverständnis des Staates sowie seiner Organisation. Reformvorschläge aus der Bevölkerung sollen gesammelt werden – Verbindlichkeit für die Regierungspraxis gibt es aber nicht. Daher werden erhebliche Zweifel am Nutzen der „Anhörung des existierenden Volkszorns“ geäußert. Der Dialog wird als „Ablenkungsmanöver“ kritisiert.

Thesen

Wir wollen und können hier nicht über die soziale Situation in Frankreich diskutieren. Vielmehr interessiert uns die Frage: was bedeutet eine solche Bewegung für uns und für Europa?

Hierzulande sind es insbesondere Sarah Wagenknecht (Linkspartei und „Aufstehen“) sowie die AfD, die große Sympathien für die Gelbwesten hegen und sich eine solche Bewegung für Deutschland wünschen.
In Deutschland gibt es eine geschlossene Facebook-Gruppe mit inzwischen über 23.000 Mitgliedern, die sich gegen Fahrverbote, Maut und insgesamt „Volksverdummung“ durch die Politik wenden. Nur durch einen solchen Aufstand, glauben sie, sich Gehör verschaffen zu können. – Hat sich die Linke die rassistischen Ausbrüche selbst zuzuschreiben, wie Thomas Ostermeier behauptet?
Auch in London finden sich inzwischen Tausende Nachahmer – wie es heißt mit Verstärkung aus Frankreich und Belgien -, die sich gegen die Politik der Regierung May wenden, insbesondere gegen die Spar-Politik. – Überhaupt ist das Thema Steuern ein zentrales Anliegen im Kampf gegen Sparpolitik (in vielen Ländern der EU).

Sowohl von Rechts als auch von Links werden die Gelbwesten vereinnahmt. Sind sie „Produkte des Ruins klassischer politischer Repräsentationen“ (Stefan Reinecke, taz 19.12.2018)? Ist es ein Konflikt Stadt gegen Land?
Sind sie revolutionär oder anti-demokratisch? – Ist das Volk klüger als demokratische Regierungen? – Sind sie Produkt der über einen langen Zeitraum in den politischen Debatten proklamierten „Alternativlosigkeit“? – Liegt in dieser Bewegung eine Chance, vom „Ich zum Wir“ zu kommen, für eine „inklusive, antifaschistische, emanzipatorische Politik“? (taz, 5./6.1.2019, Philipp Rhensius) – Oder ist es schlicht die „Angst der Verlierer“ (einer abgehängten Mittelklasse)? Sind die Gelbwesten Träger der zunehmenden „kollektiven Irrationalität“, die nicht nur in Frankreich auch mit Gewalttaten Raum greift, einer Irrationalität die von interessierter Seite instrumentalisiert und mit Feindbildern gefüttert wird? (Trump, Putin, Orban: Machterhalt bzw. -gewinn, vgl. auch Anti-Soros-Kampagne)

In diesem Jahr geht es für die EU um sehr viel. Wird die europäische Wertegemeinschaft gestärkt, oder wird der Rollback in alte Nationalismen bzw. nationale Egoismen dominieren?
Unsere Aufgabe müsste sein, Angebote zu machen, die helfen, dass diese Bewegungen zu emanzipatorischen, progressiven Bewegungen werden und nicht verhaftet bleiben in alten Antworten (Thomas Ostermeier in einem Gespräch bei DLF Kultur vom 6.12.2018), dass die Menschen sich wieder gehört und repräsentiert fühlen.

Unsere Diskussion

Schwerpunktmäßig drehte sich unsere Diskussion, um die Frage nach dem Potential „kollektiver Irrationalität“ hierzulande und wie wir dem begegnen können (Zuhören lernen, Bürgernähe, Dialog, Partizipation – Demokratie lernen, von Anfang an!, um nur ein paar Stichpunkte zu nennen). Die Frage: „Was müsste sich ändern, damit die Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie steigt?“ brachte es sehr schön auf den Punkt. (Das wäre eine Anregung für eine Anschluss-Diskussion.)

Update

Aktuell erregt der „Aachener Vertrag“ in Frankreich die Gemüter, ein bilateraler Vertrag, in dem Frankreich und Deutschland Vereinbarungen bezüglich ihrer Zusammenarbeit treffen, die multilateral auf EU-Ebene (noch) nicht funktionieren. Hier ist die Konfrontation, die uns im kommenden Europa-Wahlkampf beschäftigen wird, ganz deutlich. In der WAZ vom 23.1.2019 bringen es Tobias Blasius und Kerstin Münstermann auf den Punkt, wenn sie ihren Beitrag über die Vertragsunterzeichnung in Aachen mit folgenden Worten beenden: „Hinter Absperrungen applaudieren Anhänger der pro-europäischen Bewegung ‚Pulse of Europe‘. Direkt dahinter pfeifen ‚Gelbwesten‘-Demonstranten auf dieses Europa.“
Genau das ist die Spaltung, die durch Europa geht und die die Gelbwesten befördern. – Angst gegen Mut! Nationalismus gegen Europäisierung. Anti-Demokrat*innen gegen Demokrat*innen?