Hartz IV überwinden? – Grüne laden zur Diskussion über Alternativen der sozialen Sicherung

Warum wir als Gelsenkirchener Grüne über Hartz IV diskutieren

Die Bedeutung von Hartz IV für Gelsenkirchen ist nicht von der Hand zu weisen: 25% der Einwohner*innen gelten als arm, 19.000 Kinder und Jugendliche sind von Sozialleistungen abhängig und ein hoher Sockel an Langzeitarbeitslosigkeit belastet massiv den städtischen Haushalt. Diese verschärfte Sozialsstruktur ist im bundesweiten Vergleich signifikant und stellt das soziale Miteinander vor Herausforderungen. Entsprechend werden die „Gelsenkirchener Verhältnissen“ in Medien und Öffentlichkeit als Synonym für Armut rezipiert. 

Ausreichend Gründe also, um sich als Gelsenkirchener Grüne dem Thema zu widmen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es die Grünen sind, die die Einführung von Hartz IV 2005 – in Koalition mit der SPD – mitzuverantworten haben und unter Beweis stellen müssen und wollen, dass dieses Konzept längst überwunden wurde und sie bessere Alternativen der sozialen Sicherung anzubieten haben.
Viele Stühle blieben daher am Abend des 9. Oktober im gemütlichen Café des Alfred-Zingler-Hauses auch nicht frei, als sich unter der routinierten Moderation der grünen Stadtverordneten Ingrid Wüllscheidt eine angeregte Diskussion auf Augenhöhe zwischen Publikum und geladenen Gästen entwickelte. Auf dem Podium standen mit Sven Lehmann (sozialpolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion) und Sarah Lee Heinrich (Grüne Jugend, gefragte Talkshow-Expertin zum Thema Kinderarmut) Schwergewichte grüner Sozialpolitik Rede und Antwort. 

Sven Lehmann: Hartz IV war ein Fehler

Den Anfang machte Sven Lehmann mittels einer schonungslosen Abrechnung mit Hartz IV, bei der er als Erstes einräumte, dass die Reform aus heutiger Sicht als Fehler betrachtet werden müsse: „Heute stellt der Niediglohnsektor ein drastisches Problem dar, denn für einen erschreckenden Teil der rund 4,5 Millionen Mini-Jobs gilt, dass Arbeitssuchende in einer prekären und nicht auskömmlichen Beschäftigung stranden und viel zu oft mit Sozialleistungen aufstocken müssen, um ihren Lebensunterhalt überhaupt bestreiten zu können.“ 

Zwar habe es damals, in einer Zeit von hoher Arbeitslosigkeit, gute Gründe für die Einführung von Hartz IV gegeben, aber die damit verbundenen Hoffnungen, flexibler auf Armutsbedrohungen reagieren zu können und wieder mehr Menschen in Arbeit zu bringen, konnten aus Sicht des grünen Sozialpolitikers nicht erfüllt werden.  Stattdessen wurde unter dem Einfluss eines neoliberalen Zeitgeistes ein dauerhafter Niedriglohnsektor etabliert, auf den vor allem der Koalitionspartner SPD gedrängt habe.

Lehmann ergänzte, dass die Aspekte der bekannten Devise „Fördern und Fordern“ sich stets in einer Schieflage befunden hätten, so seien Sanktionen gegenüber der Unterstützung des individuellen Berufsweges deutlich betont worden, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen und damit gewünschtes Verhalten zu „erpressen“. „Das ist kein Kontakt auf Augenhöhe und die Bezieher*innen werden in eine permanente Bittsteller-Rolle gedrängt, wo sie eigentlich ihre Rechte einfordern.“, ärgerte sich der Sozialpolitiker.
Außerdem wurde die Berechnung des Regelsatzes schrittweise vom Lebensstandard der gesellschaftlichen Mitte entkoppelt, was verdeckte Armut begünstigt habe. Beide Mechanismen, Sanktionierung und die Höhe des Hartz IV-Regelsatzes, werden mittlerweile nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich in Frage gestellt: „Anfang November rechnen wir mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das die Sanktionen bei Hartz IV endlich einkassiert.“, stellte Lehmann in Aussicht.

Sarah Lee Heinrich: Hartz IV verursacht Kinderarmut und zerstört Chancen

Sarah Lee Heinrich ist in einer Bedarfsgemeinschaft mit ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen und weiß somit aus eigener Erfahrung über Hartz IV und Kinderarmut zu berichten. So sei sie zum „Fall“ geworden, noch bevor sie in einem arbeitsfähigen Alter war: „Zu meinem achtzehnten Geburtstag bekam ich als erstes Post vom Amt – inklusive Sanktionsandrohung.“
Kinder von Hartz IVBezieher*innen hätten nicht nur finanzielle Entbehrungen hinzunehmen, sondern bekämen auch aktiv andere Lebensperspektiven vermittelt als andere Kinder. „Das System zielt darauf ab, dass ich mit einer Ausbildung beginne. Es ging beim Beratungsgespräch nicht darum, was gut für mich ist oder was meinen Fähigkeiten entspricht, ich sollte nur aus der Statistik raus. Die Option des Studiums stand nicht einmal auf dem Dokumentationsbogen als Option zur Auswahl. , erzählte die frisch gebackene Studentin.

Diese Form des Umgangs mit Heranwachsenden präge auch den Charakter wie eine Wortmeldung aus dem Publikum deutlich machte: Du lernst zu gehorchen. Du gehst keine Risiken ein, probierst nichts aus und traust dir nichts zu, weil du damit rechnest, dass jede Abweichung sanktioniert wird. So wird man natürlich kein Unternehmer oder Akademiker.“

Kindergrundsicherung als eigenständiger Anspruch

Heinrich brachte noch einen weiteren sozialpsychologischen Aspekt ein, der Hartz IV-Familien belaste: „Als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft bekommt man ständig gespiegelt, dass wer in Armut gerät, selbst schuld daran wäre. Deshalb habe ich mich lange Zeit geschämt und zugleich meiner Mutter Vorwürfe für unsere Situation gemacht. Erst viel später habe ich verstanden, dass Armut etwas ist, das Menschen unverschuldet treffen kann und in Hartz IV angelegt ist.“

Seitdem setzt sich die 18-Jährige dafür ein, dass Armut nicht länger vererbt wird und die Politik betroffenen Kindern und Jugendlichen Auswege eröffnet. „Ich unterstütze deshalb die Forderung des ‚Bündnis Kindergrundsicherung‘ nach einer Kindergrundsicherung für jedes Kind unabhängig von seiner familiären und sozialen Situation. Damit würden Kinder und Jugendliche aus dem System Hartz IV entlassen und hätten einen eigenen Anspruch auf soziale Sicherung.“, erläuterte die Jungpolitikerin.
Ihr Kollege untermauerte ihren Standpunkt: „Die Bezugnahme auf den inidviduellen Rechtsanspruch von Kindern ist unglaublich wichtig im Kampf gegen Kinderarmut. Gegen Armut hilft natürlich die oft zitierte Bildung – vor allem aber Geld.“

Die grüne Garantiersicherung als Alternative zu Hartz IV

Als mögliche Alternative zu Hartz IV stellte Sven Lehmann die Idee einer ‚Garantiesicherung‘ vor, die zuerst von Robert Habeck vor einem guten Jahr eingebracht wurde. „Wer arbeitslos wird, sollte einen sanktionslosen, garantierten Anspruch auf eine Grundsicherung haben, die nicht nur die reine Existenz absichert, sondern auch wirkliche Teilhabe ermöglicht – und zwar als Recht und nicht als gefühltes Almosen.“, erläuterte der Kölner.

Dreh- und Angelpunkt soll die individuelle Lage sein, was beinhaltet, dass die Bedarfsgemeinschaft als Bezugsgröße wegfällt und passgenaue Hilfen und garantierte Angebote zur Qualifizierung und Weiterbildung geschaffen werden. Besonders stark machte sich der Sozialpolitiker zudem für die Betreuung auf Augenhöhe in den Jobcentern und positive Erwerbsanreize und Motivation statt Sanktionen.
„Und wenn am Ende eine armutsfeste Garantiesicherung über dem liegt, was eine hart arbeitende Angestellte verdient, dann müssen die Löhne entsprechend rauf!“,  stellte Lehmann auf Nachfrage zum sogenannten Lohnabstandsgebot klar, woran Heinrich anzuschließen wusste:  „Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen, die in Armut leben, gegen solche ausgespielt werden, die ein geringes Einkomen haben und den sozialen Abstieg fürchten. Unser Sozialsystem muss so gestaltet werden, dass Neid-Debatten erst gar nicht aufkommen.“

Auf die Frage, mit welchem Koalitionspartner Konzepte der Grundsicherung durchgesetzt werden könnten, meinte Lehmann: „Der Union steht in dieser Diskussion ihr Familienbild im Weg. Aber bei der Absicherung von Kindern kann man sich im Allgemeinen am ehesten parteiübergreifend einigen. Es muss aber in jedem Fall klar sein, dass wir uns deshalb nicht die Abschaltung eines Kohlemeilers öder Ähnliches abschwatzen lassen.“
Soziale Gerechtigkeit darf für die Grünen genauso wenig verhandelbar sein wie Klimapolitik.“, stimmte Sarah Lee Heinrich abschließend zu.

Die beiden grünen Politiker*innen sagten gerne zu, 2020 wieder zu Besuch zu kommen und die Diskussion um soziale Sicherungssysteme fortzusetzen, denn es gäbe noch ausreichend Aspekte zu beleuchten, wie z.B. die finanzielle Unterstützung auf Bundes- und Landesebene von Kommunen, die wie Gelsenkirchen besonders hohe Sozialausgaben zu tragen haben.

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