Rede des Co-Fraktionsvorsitzenden Peter Tertocha im Rat der Stadt am 21.03.2024 zu TOP 1.1 „Änderung der Geschäftsordnung für den Rat und seine Ausschüsse“

Foto: Anna-Lisa Konrad

Die Rede ist über den offiziellen Livestream der Stadt hier verfügbar und beginnt etwa bei 00:53:30.

Es gilt das gesprochene Wort.

Glückauf Frau Oberbürgermeisterin und meine Damen und Herren aus den demokratischen Parteien,

wir haben in Gelsenkirchen mittlerweile einen Punkt erreicht, an dem die Ratssitzungen bei uns zu den längsten Ratssitzungen in ganz NRW gehören. Das wäre zunächst einmal auch noch kein Problem, wenn es in den Diskussionen wenigstens um neue und dringend entscheidungsbedürftige Maßnahmen und Projekte für unsere Stadt gehen würde.

Stattdessen finden immer häufiger Endlosdebatten um formale Aspekte statt oder es entstehen Spontandiskussionen zu Sitzungsvorlagen, die in den Vorberatungen der Fachausschüsse häufig einstimmig beschlossen und dort teilweise nur wenige Minuten oder auch gar nicht mehr diskutiert wurden.

Ein Beispiel für solche Endlosdebatten ist in mittlerweile fast jeder Ratssitzung die Antragsflut, mit der viele allgemeine und auch neue Themen bzw. auch oft in den Fachausschüssen bereits beratene Vorlagen unbedingt sofort, erneut und auch zu Beginn der Ratssitzung diskutiert werden sollen. Nichts gegen Sponti-Aktionen, aber wir reden hier von einem gewählten Gremium, das die Interessen der Menschen in der Stadt vertreten soll.

Und nein, es ist nicht normal, dass es in Gelsenkirchen bis zur Feststellung der Tagesordnung manchmal (zumindest gefühlt) fast genauso lange dauert wie in anderen Städten die gesamte Ratssitzung. Und bei weniger als 1,5 Stunden Debatte zur Aufstellung der Tagesordnung ist man in Gelsenkirchen mittlerweile ja schon positiv überrascht.

Dass der Rat der Stadt ein großes Interesse an einer Beteiligung der Bevölkerung an diesem Prozess hat, zeigt auch die Einführung des Livestreams im Jahre 2022. Zugegebenermaßen nach einer endlos langen Verzögerungstaktik einzelner Fraktionen in der Vergangenheit. Zur Erinnerung: Die grüne Fraktion hat dies konkret bereits im Juli 2014 beantragt und es hat acht Jahre gedauert, bis sich endlich eine Mehrheit dafür gefunden hatte. Aber das ist ein anderes Thema.

Nur – was nützt solch ein Livestream, wenn durch diese Endlosdebatten niemand (natürlich auch niemand im Ratssaal und auf der Tribüne des Ratssaals) weiß, zu welcher Uhrzeit welches Thema wirklich Thema der Sitzung sein wird. Der gemeinsame Antrag von GRÜNEN, SPD, CDU und FDP kann nicht alle Probleme lösen, aber er kann eine deutliche Verbesserung der Situation bringen, wenn alle Fraktionen sich an die neuen Regeln halten. Bei einigen Fraktionen sind wir GRÜNEN uns aber da noch nicht so ganz sicher, wir sind jetzt gespannt auf die zukünftigen Spielchen einiger Stadtverordneter.

Und natürlich geht es auch darum, dass die Menschen, die im Rat der Stadt ehrenamtlich Politik machen, einen Anspruch darauf haben, dass ein Sitzungsende halbwegs planbar eingeschätzt werden kann. Wer dies nicht für erforderlich hält und meint, dass dies nicht notwendig ist, ist entweder populistisch unterwegs oder hat schlichtweg keine Ahnung von z. B. beruflicher Tätigkeit, Kinderbetreuung und einem Arbeitszeitgesetz, dass für die Beschäftigten der Verwaltung gilt. Meine persönliche Antwort vor der Sitzung auf die Frage, wie lange die Sitzung denn heute dauern wird, lautet übrigens seit Jahren fast immer „Keine Ahnung!“.

Wir reden bei den Stadtverordneten nicht über Personen, die hauptberuflich Politik machen (von Einzelfällen abgesehen, aber auf jeden Fall niemand aus den antragstellenden Fraktionen), sondern über Menschen, die sich bereit erklärt haben, einen Großteil ihrer Freizeit zu opfern. Viele Stadtverordnete zum Beispiel haben am Tag einer Sitzung bereits vor Sitzungsbeginn etliche Stunden beruflich gearbeitet und müssen auch am nächsten Morgen wieder am Arbeitsplatz erscheinen. Alle Parteien reden landesweit darüber, dass Kommunalpolitik für alle Menschen wieder attraktiver werden muss – nur in Gelsenkirchen habe einige wenige offensichtlich eine völlig andere Meinung.

Was ist an den vorgeschlagenen Änderungen denn wirklich so gravierend, dass es sich um eine unverhältnismäßige Einschränkung handelt?

  1. Ist es die Einführung einer Konsensliste, bei der alle Tagesordnungspunkte, die in den Vorberatungen in den Ausschüssen bereits einstimmig und manchmal auch ohne Diskussion beschlossen wurden, zu Beginn der Sitzung gemeinsam abgestimmt werden? Und Satzungen, Rechtsverordnungen und Flächennutzungspläne sind davon auch noch grundsätzlich ausgeschlossen. Funktioniert woanders auch und Ausnahmen bei richtungsweisenden Projekten soll es zusätzlich auch noch geben.
  2. Oder ist es die Regelung, dass die Redezeiten gegenüber der bisherigen Regelung halbiert werden sollen und selbst die kleinste Fraktion immer noch ca. 7 Minuten pro Tagesordnungspunkt hat? Ich habe mir mal einige Tagesordnungen im Landtag NRW angeschaut. Dort wird oft mit einer Redezeit zwischen 20 und 35 Minuten pro Tagesordnungspunkt für alle Fraktionen zusammen geplant. In Gelsenkirchen soll dies eine unverhältnismäßige Einschränkung sein? Obwohl wir zukünftig immer noch locker im Bereich von maximal ca. 2 Stunden pro Tagesordnungspunkt liegen werden.
  3. Oder ist es die Regelung, dass die Sitzungstage für alle Beteiligten – Stadtverordnete, Verwaltungsmitarbeitende und Menschen, die die Sitzung im Rathaus oder am Livestream verfolgen – planbarer werden und nach 5 Stunden enden sollen? Und auch hier sind nach unserem Vorschlag im begründeten Ausnahmefall übrigens noch zeitliche Erweiterungen möglich.
  4. Was ist kritikwürdig an dem Vorschlag, dass bei einer Anfrage ein erläuternder Teil am Anfang auf eine Minute beschränkt wird und danach ohne Zeitbegrenzung die Anfrage gestellt werden kann? In Gelsenkirchen war es zuletzt oft genau andersherum. Nach einem Endlosmonolog zu Beginn der Anfrage, z. B. das Vorlesen eines kompletten Wikipedia-Artikels oder eines mehrseitigen Zeitungsartikels kam dann die eigentliche Anfrage, die sich übrigens ziemlich oft auf weniger als eine Minute beschränkte.
  5. Oder ist es die Redezeitbeschränkung in der Geschäftsordnungsdebatte? Wenn jemand die Tagesordnung erweitern oder reduzieren möchte, dann kann der Grund locker auch in deutlich weniger als einer Minute dargestellt werden (wir GRÜNEN schaffen das jedenfalls schon immer ohne Probleme), wenn man nicht versucht, die ganze inhaltliche Debatte bereits in den formalen Änderungsantrag zu zwängen.

Wir sind der Meinung, dass es sich bei all diesen Punkten eigentlich um Selbstverständ­lichkeiten in einer demokratischen Debattenkultur handelt. Die Parteien, die dies in der Beratung im zuständigen Hauptausschuss letzte Woche mit Kritik, Polemik und Beschimpfungen kommentiert haben, mögen dies anders sehen. Wir aber nicht. Aber interessanterweise haben die Mitglieder dieser Parteien in den ebenfalls beteiligten Bezirksvertretungen deutlich weniger Kritik geübt. Und teilweise gab es dort auch Zustimmungen und Enthaltungen aus einzelnen Parteien, die heute aufschreien.

Ich möchte an dieser Stelle aber auch eine etwas ungewöhnliche Ausnahme für einen Stadtverordneten machen, der uns GRÜNEN politisch wirklich nahesteht. Ich meine den Stadtverordneten Jan Specht von der AUF/MLPD, der seine Kritik sachlich formuliert und auf die besondere Situation eines Einzelmandatsträgers hingewiesen hat.

Ja, es ist richtig, dass bei wichtigen Themen eine Redezeit von 3 Minuten bei einem wichtigen Tagesordnungspunkt sehr knapp bemessen ist. Aber wir müssen natürlich gleichzeitig auch das Verhältnis zwischen den Redezeiten aller im Rat vertretenen Parteien berücksichtigen und wollen auch keine Regelung beschließen, die nur eine Pseudoreduzierung ist. Das ist ein Dilemma und deshalb haben wir aber auch die Regelung eingebaut, dass bei bedeutenden Punkten nach einer Vorberatung im Ältestenrat die Gesamtredezeit für einen Tagesordnungspunkt zu Beginn der Ratssitzung erweitert werden kann.

Und das meinen wir GRÜNEN sehr ernst. Beispiele sind für uns GRÜNE Projekte in der Größenordnung Haushalt, Bäderkonzept, Bildungscampus, Norderweiterung, Livestream und Mobilitätskonzept.

Das setzt aber voraus, dass auch alle Parteien bereit sind, an einer Sitzung des Ältesten­rats teilzunehmen. Ich sag mal vorsichtig formuliert so: Die Beteiligung an der letzten Ältestenratssitzung zur Vorbereitung des Hauptausschusses und der heutigen Ratssitzung war doch arg überschaubar.

Zusammenfassend halten wir unseren Antrag für seriös, moderat und zustimmungsfähig. Deshalb haben wir ihn gemeinsam mit 3 anderen Fraktionen eingebracht und deshalb werden wir ihn heute natürlich auch aufrechterhalten.

Zum Schluss noch ein Hinweis: Heute früh habe ich auf die Frage wie lange die heutige Ratssitzung dauern wird, erneut mit „Keine Ahnung“ antworten müssen. Hoffentlich zum letzten Mal.

Glückauf