Rede des Stadtverordneten Burkhard Wüllscheidt im Rat der Stadt am 08.05.2023 zu TOP 2 Bebauungsplan Nr. 451 der Stadt Gelsenkirchen „Industriegebiet nördlich Ulfkotter Straße“

Foto: Anna-Lisa Konrad

Die Rede ist über den offiziellen Livestream der Stadt hier verfügbar und beginnt etwa bei 0:30:20.
Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, meine Damen und Herren im Ratssaal, auf der Tribüne und im Internet,

in einer Sondersitzung des Rates sollen wir heute in einem Schnellverfahren einem Bebauungsplanentwurf für ein neues „Industriegebiet Nördlich Ulfkotter Straße“ zustimmen.

Was verbirgt sich dahinter?

Es geht -wie schon einmal vor rd. 10 Jahren- erneut um die sog. Norderweiterung des BP-Standortes in Scholven in ein Landschaftsschutzgebiet hinein.

Der damalige von uns den GRÜNEN im Rat abgelehnte Bebauungsplan ist später vor Gericht aus formalen Gründen gescheitert.

Seither hat die dramatische Entwicklung der weltweiten Klimakatastrophe dafür gesorgt, dass -für uns erfreulicherweise- die damals geplante einfache Erweiterung einer Raffinerie nach altem Muster keine langfristige Zukunft mehr hat. Keine Zukunft mehr, weil sie auf fossile Einsatzprodukte wie Erdöl oder auf die Herstellung fossiler Verbrennungsprodukte wie Benzin und Diesel basiert.

Diese Entwicklung ist in der Zwischenzeit auch im Management von BP als unumkehrbar anerkannt worden. Das Ergebnis war, das BP selbst das strategische Unternehmensziel eines klimaneutralen Standortes spätestens bis 2050 auf ihre Tagesordnung gesetzt hat. Das ist aus unserer Sicht ebenfalls sehr erfreulich!

Der Knackpunkt in der Erreichung der Klimaneutralität wird aber der Ersatz der riesigen Mengen fossiler Einsatzprodukte wie Erdöl oder Erdgas sowie die Umstellung auf CO2-neutrale Produkte für die Raffineriekunden insbesondere im Bereich der chemischen Industrie werden.

Nur wenn dieses bis 2050 oder besser früher gelingt, wird die Raffinerie eine Zukunft haben und die Arbeitsplätze dort gerettet werden können! Letzteres ist auch Anliegen der GRÜNEN!

Vor diesem Hintergrund war vor gut einem Jahr eine von BP auf den Tisch gelegte Planung überraschend und prüfenswert: Zusammen mit dem amerikanischen Investor Brightmark sollte aus Kunststoffabfällen Pyrolyseöl als Ersatzstoff für die fossilen Einsatzprodukte der Raffinerie gewonnen werden. Gewonnen in großindustriellen Pyrolyseanlagen, gebaut im Freiraum des Landschaftsschutzgebietes, in denen je Anlage pro Jahr 360.000t Kunststoffabfälle verarbeitet werden sollten. 

So weit, aber auch so gut? Zumindest aber prüfenswert! Damals auch für uns GRÜNE: Sollte der Plan wirklich nachweisbar gelingen, könnte das ja tatsächlich dem Ziel der Erreichung der Klimaneutralität der Raffinerie und in einem für die Erreichung der Klimaneutralität der Raffinerie relevanten Umfang dienen. Genau das wäre im Bebauungsplanverfahren für uns zu prüfen gewesen! Zu prüfen, ob damit in der Abwägung zwischen Schutz der klimarelevanten Freiflächen im Landschaftsschutzgebiet und dem Ziel einer klimaneutralen Raffinerie die industrielle Nutzung der Freiflächen doch vertretbar wäre.

Wir haben uns deshalb bei dem Aufstellungsbeschluss zum Bebauungsplan vor gut einem Jahr zunächst enthalten. Allerdings mit der Ankündigung, dass wir eine Zustimmung zum Satzungsentwurf des Bebauungsplanes nicht ausschließen würden, wenn in der Abwägung dieser konkurrierenden Ziele entsprechende Nachweise erbracht würden.

In der Folge haben wir uns sehr intensiv mit der geplanten Technologie auseinandergesetzt. Das Ergebnis haben wir in der Sitzung des Planungsausschusses am letzten Mittwoch ausführlich begründet und will ich hier im Detail nicht wiederholen.

Deshalb hier nur die wichtigsten Quintessenzen:

  • Die geplante Pyrolysetechnologie ist (zumindest derzeit) kein technisch ausgereiftes Verfahren für die großindustrielle Anwendung.
  • Es gibt keinen Nachweis, z.B. über sog. Stoffströme, eines mengenmäßigen signifikanten Beitrages zum Ersatz fossiler Einsatzstoffe wie Erdöl oder Erdgas in der Raffinerie.
  • Es gibt die Gefahr der Marktverdrängung wesentlich effizienterer bestehender Recyclingverfahren für Kunststoffabfälle.
  • Es sind ganz erhebliche Umweltbelastungen und -gefahren zu befürchten (Stichworte: Restasche, Prozessgase, LKW-Verkehre, Brandrisiko in den Kunststoffabfällen).

Auch das am 30.11.22 -leider nur nichtöffentlich von der Stadt durchgeführte Hearing mit Vertretern von BP, Brightmark und einem Wissenschaftler hat für uns diese negativen Quintessenzen in vielen Punkten bestätigt. Das Hearing hat aber auch viele Fragen an BP und Brightmark unbeantwortet gelassen. Neben den Ergebnissen sollten vor allem die vielen unbeantworteten Fragen aus dem Hearing auf einer Internetplattform durch BP spätestens Anfang Januar 2023 dokumentiert, beantwortet und veröffentlicht werden. Das wurde auch uns gegenüber von BP fest versprochen. Tatsächlich war bis zur Fachausschuss-Sitzung am letzten Mittwoch nichts veröffentlicht – erst heute, zwei Stunden vor der Ratssitzung, das ist mehr als dürftig und kein gutes Zeichen für Vertrauensbildung und Transparenz!

In der Ratssitzung heute steht diese Pyrolyseanlage allerdings nur noch indirekt zur Abstimmung. Indirekt deshalb, weil die Bauleitplanung für uns überraschend als sog. „Angebotsbebauungsplan“ daherkommt. Das heißt ein Bebauungsplan nicht für eine konkrete Anlage mit nachgewiesener großer Bedeutung für die Erreichung der Klimaneutralität der Raffinerie. Sondern ein „Angebotsbebauungsplan“ für alle möglichen laut Entwurf zwar „zukunftsgerichteten und nachhaltigen Technologien“ aber nicht näher konkretisierten Anlagen. Die Pyrolyseanlage wird nur noch als derzeit angeblich realistischste Option benannt.

Wir haben uns gefragt, was steckt eigentlich hinter dieser Öffnung der vorgelegten Bauleitplanung vom „vorhabenbezogenen Bebauungsplan“ zum „Angebotsbebauungsplan“?

Wir sehen zwei Gründe:

  1. Grund: Die dauerhafte Genehmigung des Fremdfirmenhofes:
    Auf inzwischen 17 ha sind dort die für BP tätigen Fremdfirmen seit über 10 Jahren schon viel zu lange zeitlich befristet angesiedelt und auch in der Art der Unterbringung/Bauten nur provisorisch genehmigt. Die Befristung läuft in diesem Jahr unseres Wissens nach endgültig aus.

Die zwingende Verlegung auf andere vorhandene Gewerbe-, Industrie- oder Brachflächen war bisher nicht strittig und immer das Ziel. Ein solcher Fremdfirmenhof im Freiraum eines Landschaftsschutzgebietes wäre aus unserer Sicht für sich allein betrachtet im Rahmen eines „vorhabenbezogenen Bebauungsplanes“ eigentlich nicht und vor allem nicht rechtzeitig noch in diesem Jahr genehmigungsfähig gewesen. Für eine solche Anlage sollte in der Abwägungsbetrachtung zwischen den zweifellos aus BP-Sicht wirtschaftlichen und logistischen Vorteilen und dem Schutz des Freiraums, dieser nicht für eine solche Nutzung dauerhaft geopfert werden.

Wir vermuten daher, dass BP gerade auch deshalb „keinen vorhabenbezogenen Bebauungsplan“ wollte!

  • Grund für den Angebotsbebauungsplan: Der Freifahrtschein für industrielle Bebauung auf den Freiflächen des Landschaftsschutzgebietes:

Durch die Ankündigung einer sehr schnellen Realisierung der ersten Pyrolyseanlage zum Zeitpunkt des Aufstellungsbeschlusses vor gut einem Jahr hatte BP großen Zeitdruck suggeriert. Und wir hatten deshalb logischerweise eigentlich den von mir schon erwähnten „vorhabenbezogenen Bebauungsplan“ erwartet. Bei Nichtzustandekommen oder Nichtgenehmigung der Anlage z.B. nach dem BImschG im Rahmen eines „vorhabenbezogenen Bebauungsplanes“ wären die Freiflächen im Landschaftsschutzgebiet weiterhin solche geblieben. Nun aber der Angebotsbebauungsplan, der aus unserer Sicht quasi einen Freifahrtschein für BP für nicht näher konkretisierte Anlagen ausstellt!

Wir fragen uns schon länger: Wird die Planung und der Bau der Pyrolyseanlage wirklich noch mit dem von BP vor einem Jahr behaupteten Tempo betrieben? Wir wissen es nicht so genau… Aber wenn nein, dann bleibt eben der „Angebotsbebauungsplan“ quasi als Freifahrtschein für welche Anlage auch immer…und unsere Ratssondersitzung wäre unter falschen Annahmen einberufen worden.

Und es bleibt, der dauerhaft gleich mal mitgenehmigte Fremdfirmenhof!

Das ist mit uns GRÜNEN so nicht zu machen! Mit diesen Zielsetzungen wird BP ein Freifahrtschein für Industrieansiedlung ausgestellt, Greenwashing ermöglicht und nicht die Entwicklung einer klimaneutralen Raffinerie wirklich auf den Weg gebracht! Deshalb werden wir den heute vorgelegten Bebauungsplanentwurf für eine erneute BP-Norderweiterung in den Freiraum Scholvens ablehnen!